Der
Alptraum wird wahr
Uri Avnery, 12.6.04
Ich dachte, das
wäre schrecklich. Ich irrte mich. Es ist viel, viel schlimmer! Diese
Worte fassen zusammen, was ich in diesem Augenblick fühlte.
Ich stand auf einem
Hügel und überblickte den berüchtigten Kalandia-Kontrollpunkt.
Unter mir war eine
schmale Straße, die voll mit Palästinensern war, die bei sengender
Hitze - 30 Grad im Schatten – ( aber es gab nirgendwo Schatten)
sich in Richtung Checkpoint schleppten. Sehr bald wird diese Straße
anders aussehen. Auf beiden Seiten werden sich 8m hohe Mauern
erheben. Die Straße wird auf drei Spuren erweitert und nur für
Siedler sein. Die Siedler aus dem Jordantal können dann Tel Aviv in
etwa einer Stunde erreichen. Die Palästinenser, die auf beiden
Seiten leben, werden von einander abgeschnitten sein.
Dies ist ein
kleiner Teil der neuen Realität, die sehr schnell auf der Westbank
geschaffen wird und die das Land, wie wir es kennen und lieben,
unkenntlich machen wird.
Ich stand am Rande
von A-Ram, das einmal ein kleines Dorf am Stadtrand von Jerusalem
auf dem Weg nach Ramallah war. Seitdem die auf einander folgenden
Regierungen die Palästinenser von Ost-Jerusalem daran gehindert
haben, sich dort neue Wohnungen zu bauen, hat die schreckliche
Überbevölkerung die Menschen zu einem Massenexodus nach A-Ram
gezwungen, das nun zu einer Stadt mit 60 000 Einwohnern geworden
ist. Die meisten von ihnen sind offiziell noch Jerusalemer Bewohner,
die die blaue Identitätskarte der Bürger Israels haben. Das erlaubt
ihnen - nach einer Fahrt von 10 Minuten - in Jerusalem zu arbeiten,
ihren Geschäften nachzugehen, die Krankenhäuser oder die
Universitäten zu besuchen.
Damit wird bald
Schluss sein. Entlang der uralten, (ja, antiken) Straße von
Jerusalem nach Ramallah – und die weiter nach Nablus und über
Damaskus hinaus führt – wird die 8m hohe Mauer, die gerade jetzt
gebaut wird, nicht quer über die Straße geführt, sondern in der
Mitte der Straße, der ganzen Länge nach. Die Bewohner A-Rams östlich
der Mauer werden vollkommen von Jerusalem abgeschnitten sein, aber
auch von allen Stadtteilen und Dörfern im Westen – von ihren
Verwandten, den Schulen, in die Tausende ihrer Kinder gehen, ihrem
Friedhof und ihren Arbeitsplätzen dort. Ein kleiner Teil von A-Ram
bleibt außerhalb der Mauer und wird vom Hauptteil der Stadt (A-Ram
) abgeschnitten.
Aber das ist nur
ein Teil der Geschichte: weil die Mauer ( an einigen Stellen eine
Barriere aus Zaun, Stacheldraht, Gräben und Patrouillenwegen ) A-Ram
von allen Seiten vollkommen umgeben wird. Der einzige Ausgang dieses
ummauerten Gebietes wird über eine schmale Brücke sein, die es mit
dem benachbarten Gebiet im Osten verbindet, in dem einige
palästinensische Dörfer liegen, die wiederum von einer Barriere
umgeben sind. Diese Enklave wird einen kleinen Ausgang zur
Ramallah-Enklave haben. Durch diese wird es für eine Person möglich
sein, von A-Ram - so Gott will - mit einem Umweg von 30km Ramallah
zu erreichen. Vor der Besatzung war das ein Weg von kaum 10
Minuten.
Nur wenige
Kilometer westlich von A-Ram liegt eine Gruppe Dörfer rund um Biddu
( wo inzwischen fünf Palästinenser getötet wurden, als sie
gewaltfrei gegen die Mauer demonstrierten). Dieses Gebiet wird
schnell eine weitere Enklave, völlig umgeben von einer separaten
Barriere. Der einzige Weg nach draußen wird ein Tunnel sein, der
unter der Straße 443 gebaut wird. Es ist die Siedlerstraße, deren
Sektion ich vorhin schon erwähnte. Alle bestehenden Straßen nach
Biddu sind längst durch Gräben und Erdwälle unpassierbar gemacht
worden. Man kann nur noch an einer Stelle durch einen Checkpoint
durch. Den wird es bald auch nicht mehr geben.
Wenn ein
Dorfbewohner von Biddu ein Geschäft in a-Ram tätigen will, muss er
durch den Tunnel nach Ramallah, dann durch die östliche Enklave, um
A-Ram über eine schmale Brücke zu erreichen. Das ist ein Umweg von
40km, anstelle einer Fahrt von wenigen Minuten.
A-Ram wird
besonders hart betroffen. Wegen seiner Lage war es während der
letzten paar Jahre eine Art Umschlageplatz für Waren geworden, die
aus Israel kommen und in die Westbank transportiert werden sollen
und umgekehrt. Israelis und Palästinenser machen hier ihre
Geschäfte. All das wird mit der Mauer ein Ende haben. Die Grundlage
für den Lebensunterhalt wird für viele der 60 000 Bewohner
verschwinden.
Dies ist nur ein
Beispiel für das, was jetzt überall auf der Westbank geschieht. Sie
wird nun zu einem Flickenteppich eingemauerter Enklaven, die
untereinander mit Brücken, Tunnel oder speziellen Straßen
„verbunden“ sind, die von einem Augenblick zum anderen je nach
Laune der israelischen Regierung oder eines örtlichen Armeeoffiziers
abgeschnitten werden können.
Rund herum gibt es
Straßen nur für Israelis, sich ausdehnende Siedlungen und
militärische Einrichtungen. Jede palästinensische Stadt – Jenin,
Nablus, Kalkilia, Bethlehem, Hebron und andere werden zu
Hauptstädten winziger Enklaven, von einander, vom Hinterland und den
Dörfern abgeschnitten, wenn man von den gewundenen, weiten Umwegen
absieht.
55% der Westbank
werden israelisch sein. Die palästinensischen Enklaven werden nur
noch 45% - also 10% des ehemaligen historischen Palästina ausmachen.
Dies ist nicht mehr
nur ein Alptraum für die Zukunft – er geschieht jetzt. Man kann ihn
mit bloßem Auge sehen - während Sharon über einen „Abzugsplan“
palavert, der irgendwann in der Zukunft in einem kleinen Teil der
besetzten Gebiete umgesetzt werden soll.
So gut wie kein
Israeli hat von all dem eine Vorstellung. Auch wenn es nur 1km von
seiner Haustüre entfernt geschieht, wie z.B. in Jerusalem. Es
scheint alles viel weiter weg als die andere Seite des Mondes zu
sein. Die Medien sind nicht daran interessiert und die Welt auch
nicht.
Dies ist der
„Frieden“, von dem Sharon immer geträumt hat . Das ist der
„Palästinensische Staat“, den George Bush versprochen hat. Es ist
der Grundstein des „demokratischen neuen Nahen Ostens“.
Natürlich wird es
zu einem Blutbad von unglaublichen Ausmaßen kommen. Kein Volk der
Erde wird mit solchen Lebensumständen einverstanden sein.
Abertausende von Palästinenser werden dann lieber in den Märtyrertod
flüchten.
Und irgendwann in
der Zukunft wird dieses abscheuliche Bauwerk abgerissen werden, wie
der Berliner Mauer in Deutschland, die weniger unmenschlich war. Wie
immer, wird nach viel Leid der menschliche Geist die Oberhand
gewinnen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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